
Prof. Dr. Maarten Boersma, kommissarischer Direktor des Alfred-Wegener-Instituts, über Klimafolgen, neue Arten im Watt und seine Vision für ein nachhaltiges Sylt.
INTERVIEW
Herr Prof. Dr. Maarten Boersma, Sie sind Vize-Direktor des Alfred-Wegener-Instituts. Sie kümmern sich um die Inselstandorte Helgoland und Sylt. Was genau ist Ihre Aufgabe hierbei?
Ich bin derzeit kommissarischer Direktor des gesamten Alfred-Wegener-Instituts und damit auch für den Forschungsbereich Schnee und Eis verantwortlich – doch mein Herz schlägt weiterhin auch für die Küsten. Als Direktor der Biologischen Anstalt Helgoland sowie der Wattenmeerstation auf Sylt liegt mein Fokus auf der Koordination und Weiterentwicklung der Küstenforschung am AWI.
Unsere Arbeit auf den beiden Inseln konzentriert sich auf die Auswirkungen globaler und lokaler Stressfaktoren auf marine Ökosysteme. Dazu gehören etwa der Temperaturanstieg infolge erhöhter CO₂-Konzentrationen in der Atmosphäre, aber auch Einflüsse durch Nährstoffeinträge, Versauerung der Meere sowie direkte menschliche Eingriffe – wie Fischerei oder der Ausbau von Offshore-Windenergie. Unser Ziel ist es, die komplexen Wechselwirkungen dieser Faktoren besser zu verstehen, um fundierte wissenschaftliche Grundlagen für den Schutz und die nachhaltige Nutzung unserer Küstenökosysteme zu schaffen.
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Das Alfred-Wegener-Institut (AWI) betreibt Polar- und Meeresforschung von der Atmosphäre bis zur Tiefsee. Wie steht es mit dem Klima auf Sylt und Helgoland?
Ein ‚Klima von Sylt‘ oder ‚Klima von Helgoland‘ gibt es streng genommen nicht – Klima beschreibt Prozesse auf deutlich größeren räumlichen Skalen. Dennoch beobachten wir natürlich auch hier ganz konkrete Folgen des globalen Klimawandels. So sind die Wassertemperaturen in der Nordsee seit Beginn unserer Langzeitmessungen in den 1960er-Jahren im Durchschnitt um mehr als 1,5 °C gestiegen – eine beachtliche Veränderung, die vielfältige ökologische Auswirkungen mit sich bringt.
Durch die Erwärmung kommt es zudem zur Schmelze von Gletschern und Eisschilden, gleichzeitig dehnt sich das erwärmte Wasser aus – beides führt zu einem ansteigenden Meeresspiegel. In der Nordsee messen wir derzeit einen mittleren Anstieg von 3–4 mm pro Jahr. Über die letzten 65 Jahre sind das mehr als 20 cm – eine erhebliche Veränderung, insbesondere für eine Insel wie Sylt, die stark von Küstendynamik betroffen ist.
Es gibt jedoch auch positive Entwicklungen: Die Belastung der Nordsee mit Nährstoffen wie Stickstoff und Phosphor ist in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Das Wasser ist heute spürbar klarer als noch vor 40 Jahren, und Sauerstoffmangel – einst ein ernstes Problem – tritt im deutschen Teil der Nordsee heute kaum noch auf.
Welche Rolle spielt eigentlich Müll im Meer vor Sylt?
Müll im Meer ist ein globales Problem. Viele Menschen kennen die erschreckenden Bilder vermüllter Strände in Ländern wie Indonesien oder die Berichte über den ‚Great Pacific Garbage Patch‘ im Pazifik. Solche Zustände haben wir vor Sylt glücklicherweise nicht. Durch regelmäßige Sammelaktionen an Land und die gezielte Betreuung der Strände wird bereits viel erreicht und sichtbarer Müll eingesammelt.
Doch der sichtbare Müll ist nur ein Teil des Problems. Kunststoff, der lange Zeit im Meer treibt, wird durch Sonnenlicht, Wellen und mechanische Einwirkungen zerkleinert – es entstehen Mikro- und Nanoplastikpartikel. Diese Partikel können von kleineren Organismen aufgenommen werden und so über die Nahrungskette auch in den menschlichen Organismus gelangen. Welche Auswirkungen das auf die Gesundheit hat, ist bislang noch nicht ausreichend erforscht – aber von positiven Effekten ist nicht auszugehen.
Wir erfassen regelmäßig die Konzentration von Mikroplastikpartikeln in der Nordsee. Lokal können die Werte durchaus erhöht sein, etwa durch Einträge aus Flüssen oder Kläranlagen. Insgesamt bewegen sich die Konzentrationen im Nordseewasser aber derzeit im Bereich von wenigen Partikeln pro Kubikmeter – das ist vergleichsweise niedrig, aber dennoch besorgniserregend, da sich Plastik in der Umwelt kaum abbaut
Eines Ihrer Themen ist, die Nordsee im Wandel. Wie hat sich die Nordsee in den letzten Jahren verändert und wie wird sie sich verändern, auch im Hinblick auf den Klimawandel?
Wie bereits beschrieben, hat sich nicht nur die Temperatur verändert – auch viele andere Umweltfaktoren unterliegen einem Wandel. Diese Veränderungen wirken sich unmittelbar auf das Ökosystem aus. Kälte-liebende Arten ziehen sich zunehmend in nördlichere Regionen zurück, während wir rund um Sylt immer häufiger wärmeliebende Arten beobachten. Das führt zu einer spürbaren Verschiebung in der Artenzusammensetzung.
Doch es verändert sich nicht nur, wer im Ökosystem vorkommt, sondern auch, wie die Arten miteinander interagieren. Räuber-Beute-Beziehungen beispielsweise geraten aus dem Gleichgewicht, wenn die beteiligten Arten unterschiedlich stark oder zeitlich versetzt auf Umweltveränderungen reagieren. Was früher gut aufeinander abgestimmt war – etwa das gleichzeitige Auftreten von Räuber und Beute – funktioniert heute oft nicht mehr. Das kann weitreichende Folgen für ganze Nahrungsnetze haben.
Wenn wir dieser Entwicklung nicht entgegenwirken und unsere CO₂-Emissionen deutlich reduzieren, werden sich diese Veränderungen weiter fortsetzen – mit langfristigen und schwer kalkulierbaren Konsequenzen für die Ökologie der Nordsee
Welche neuen Arten gibt es im Watt? Worauf sollte man bei einer Wattwanderung achten, um möglichst viel „erforschen“ zu können?
Auch im Wattenmeer beobachten wir zunehmend das Auftreten gebietsfremder Arten. Verschiedene eingeschleppte oder eingewanderte Krebstiere machen sich breit, ebenso neue Muschelarten – besonders auffällig ist dabei die Amerikanische Schwertmuschel, die inzwischen deutlich sichtbar im Watt vertreten ist.
Am markantesten ist jedoch die Verbreitung der Pazifischen Auster. Seit rund 30 Jahren ist sie im Wattenmeer heimisch – wer heute durchs Watt wandert, wird ihr kaum ausweichen können. Anfangs befürchteten wir, dass die Pazifische Auster die heimische Miesmuschel verdrängen könnte. Inzwischen hat sich jedoch eine Art neues Gleichgewicht eingestellt: Junge Miesmuscheln wachsen oft geschützt zwischen den größeren, robusteren Austern und sind dort besser vor Fraßfeinden wie Krebsen geschützt.
Egal ob bei einer Wattwanderung im Norden oder Süden der Insel – überall lassen sich diese Neuankömmlinge erkennen. Sie sind sichtbarer Ausdruck dafür, wie stark sich das Wattenmeer durch globale Veränderungen und biologische Invasionen wandelt.
Und jetzt mal etwas Persönliches: Was schätzt du an Sylt besonders?
Ich liebe es, auf Sylt mit dem Rennrad unterwegs zu sein. Die Insel bietet eine beeindruckende landschaftliche Vielfalt auf kleinem Raum: raue Dünen an der Westseite, weite Weidenlandschaften im Osten und hervorragend ausgebaute Radwege, die die Orte miteinander verbinden. Nach einer Tour gibt es für mich kaum etwas Schöneres, als am späten Nachmittag oder frühen Abend an den Strand zu fahren. Ab etwa fünf Uhr wird es dort angenehm ruhig – dann kann man fast für sich allein den Sonnenuntergang über der Nordsee genießen
Was sind die besonderen Herausforderungen für die Insel in puncto Nachhaltigkeit aus eurer Sicht?
Gerade im Sommer ist die Insel sehr stark besucht – manchmal zu stark. Natürlich ist uns allen bewusst, dass Sylt wirtschaftlich stark vom Tourismus lebt. Aber ich glaube, wir stoßen zunehmend an Belastungsgrenzen. Besonders spürbar wird das im Verkehr: Es sind schlichtweg zu viele Autos unterwegs, und in den Ortschaften wird der Raum auf den Straßen dadurch immer knapper.
Tipp: E-Mietwagen auf Sylt mieten oder mit dem blauen Autozug auf die Insel
Während ich vorhin die hervorragend ausgebauten Radwege zwischen den Orten gelobt habe, sieht es innerhalb der Ortschaften leider anders aus. Dort sind viele Radwege nur unzureichend gestaltet – oft schmal, unterbrochen durch abgesenkte Bordsteine, im Konflikt mit Fußgängern oder im Gegenverkehr. Das ist weder komfortabel noch sicher.
Die große Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, den Tourismus auf Sylt nachhaltiger zu gestalten. Es gibt bereits einige vielversprechende Initiativen – sowohl lokal als auch regional –, doch die Belastung für Natur und Infrastruktur ist bereits jetzt erheblich. Ein besseres Gleichgewicht zwischen Erholung, Mobilität und Umweltverträglichkeit ist dringend nötig
Was ist deine Vision von Sylt in 10 Jahren?
Ich hoffe, dass sich Sylt in den kommenden zehn Jahren seine besondere Identität bewahren kann – als Perle in der Nordsee. Mein Wunsch ist, dass die Insel nicht weiter zugebaut wird und naturnahe Räume nicht nur erhalten bleiben, sondern sich zu Hotspots der Biodiversität entwickeln. Der Verkehr ist dann vollständig CO₂-frei, und die Insel insgesamt klimaneutral.
Nur wenn wir diesen Weg konsequent gehen, wird Sylt auch über die nächsten zehn Jahre hinaus ein lebenswerter Ort bleiben – für die Natur, für die hier lebenden Menschen und für alle, die diese einzigartige Landschaft als Gäste erleben möchten.
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